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Im Februar 1976 baute Joseph Beuys erstmals seine Installation Zeige Deine Wunde in einem Raum in einer Münchener Unterführung auf. „Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will. Der Raum […] spricht von der Krankheit der Gesellschaft. […] Eine dynamische Entscheidungssituation ist dargestellt“ (Beuys).
In der Rezeption wurde diese Arbeit häufig als ein „neuzeitliches Memento Mori“ betrachtet.
In unserem Projekt ICH BIN ALLE wollen wir den Prozess der Bewusstwerdung und der Thematisierung der Wunden für interessierte Menschen öffnen. Im Zentrum stehen hier also die „Wunden“ als Erfahrungen derjenigen, die als Besucher*innen an der Arbeit mitwirken.
Um die eigene Wunde zeigen zu können, muss man sie zunächst selbst wahrnehmen und erkennen. Eine Möglichkeit dazu ist der individuelle Versuch, seine eigenen Verletzungen zu beschreiben, sie konkret zu benennen.
Dazu laden wir in einem ersten Schritt ein. In einem zweiten Schritt bieten wir interessierten Menschen einen Raum an, in dem sie sich „im Antlitz des anderen“ erkennen können – auch als schöpferisches, soziales Wesen.
Das Projekt gliedert sich also in zwei Teile.
- ICH – Sprich Deine Wunde
- ALLE – Erkenne Dich im Andern
ICH
Sprich Deine Wunde
Joseph Beuys: „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt, nicht im Goetheanum“.
In der Bahnhofsbuchhandlung des Barmer Bahnhofs richten wir einen besonders gestalteten Raum ein (falls das die Pandemie zulässt). Dort empfangen wir einzelne Besucher*innen und laden sie ein, von ihren Wunden – von einem Leid, einer Verletzung, einem Schmerz, einer Angst – zu erzählen.
Diese Erzählung wird digital aufgezeichnet, sofern der erzählende Mensch damit einverstanden ist.
Wir übernehmen dabei keine therapeutische Funktion, sondern versuchen lediglich, dem Menschen bei der Beschreibung der Wunde(n) Unterstützung zu geben. Wir hören zu und sammeln.
Zusätzlich zu diesem realen Raum bieten wir einen virtuellen Raum an. Über Zoom und über Telefon können Interessierte mit uns in Kontakt treten und uns von ihren Wunden auch auf diesem Wege erzählen.
Christoph Schlingensief: „Ich hab die Angst da rein gesprochen. Ein ins Licht getriebenes Gespenst verliert seinen Schrecken. Im Kern geht es, das merkte ich während meiner Krankheit, um die Autonomie meiner Person – wie die eines jeden Menschen.
Sprechstunden in der Wundstation (Barmer Bahnhofsbuchhandlung): oder Sprechstunden im Wundzentrum (online oder am Telefon):
Wir bedanken uns bei Carmen und Thomas Leipoldt / Café & Bahnhofsbuchhandlung im Barmer Bahnhof für die unkomplizierte und freundliche Kooperation.
ALLE
Erkenne Dich im Andern
Christoph Schlingensief: „Eigentlich achte ich viel mehr auf Geräusche, die musikalische Struktur. Das Musikalische hält mich in dem Raum und nicht mehr der Gedanke“.
Die Audioaufzeichnungen der Erzählungen haben wir zu Hörstücken collagiert, die in der Heilkünstlerei mit Installationen korrespondieren.
Zur Inszenierung gehört ein Film, den Jonathan Lutz für die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main in Zusammenarbeit mit dem Regie-Star Luk Perceval produziert hat.
Besucher*innen erleben diese Performance vom 02. bis zum 06. Juni in der HEILKÜNSTLEREI, die sich in diesen Tagen als Gesamtkunstwerk präsentiert.
Christoph Schlingensief: „Ich soll die Gespenster, die man ja selber produziert, an den Tisch setzen, die Ängste. Ich soll sagen: So, jetzt reden wir, was willst du mir sagen, welche Angst ist das. Hol alle Gespenster an den Tisch, hat Patti Smith gesagt.“
Im Hören der Erzählungen anderer von ihren Wunden in einem künstlerischen Kontext, in einer Art Versuchsanordnung, verändert sich die Wahrnehmung des Themas. Unser „auf ökonomische Ziele und rationale Effizienz reduziertes Bewusstsein“ kann sich hier weiten.
Womöglich wird dabei spürbar, dass die individuellen Wunden durchaus auch Ausdruck von „gesellschaftlichen Krankheiten“ sind oder sein können. Indem ich mich selbst in diesem Hörstück wiederfinde, in dem, was andere von ihrem Leid erzählen, kann mir bewusst werden, dass ich im Engagement für eine sozialere, gerechtere, freiere Gesellschaft etwa zur Heilung solcher Wunden beitragen kann.
„Erst im Antlitz des Anderen, im Erkenne Dich selbst im Anderen, d.h. im Sozialen, im Tun für andere ,als erstem Sozialen Gesetz (J.B.), leuchtet der Mensch als Mensch im kreativen Impuls auf.“